12.08.2021

EINE LIEBESERKLÄRUNG AN DAS PUBLIKUM

Maximal 50 Konzerte gibt er pro Saison. Eines davon führt ihn nun nach Linz. Es ist dies sein einziger Auftritt in Österreich in diesem Jahr. Krystian Zimerman gilt als Perfektionist. Doch geht es bei ihm nie um Perfektion im rein virtuosen Sinn. Dass der gebürtige Pole das Klavier technisch souverän beherrscht, versteht sich von selbst. Es geht ihm um die Musik als solche, die er als Kunst versteht, Emotionen zeitlich zu organisieren. Nur selten gibt er Interviews. Mit Peter Blaha aber nahm er sich Zeit für ein ausführliches Gespräch.

 

Sie haben zuletzt vor 23 Jahren im Brucknerhaus gespielt. Welche Erinnerung haben Sie an den Saal und seine Akustik?

Eine gute! Ich habe damals keine Messungen der Saalakustik mehr durchgeführt, wie ich das früher stets getan habe. Aber soweit ich mich erinnere, zählt der Saal im Brucknerhaus zu jenen mit besserer Akustik.

Welches Programm Sie spielen werden, ist noch nicht bekannt. Sie legen sich im Voraus offenbar nicht gerne fest …

Ich lege mich schon lange im Voraus fest, nur verrate ich das Programm nicht (lacht). An dem Programm für Linz fummle ich schon seit Jahren herum. Wenn ich die Programme zu früh ankündige und eine Änderung notwendig wird, werden in den diversen Medien dumme Mutmaßungen angestellt, die manchmal sogar einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad haben, sodass ich sie nicht mehr loswerde. Deshalb habe ich mich schon vor zehn Jahren entschieden, keine Programme mehr anzukündigen. Es gibt noch einen zweiten Grund: Ich möchte nicht, dass sich die Leute nur wegen der Mondscheinsonate oder eines anderen Werks Tickets kaufen. Ich möchte, dass sie sich Tickets für Krystian Zimerman kaufen. Ich habe das Publikum nie betrogen, ich habe immer gute Programme gespielt. Wer mir diesbezüglich nicht vertraut, den will ich eigentlich gar nicht im Publikum haben.

Krystian Zimerman
Krystian Zimerman © Kasskara and DGG

Können Sie trotzdem schon verraten, was Sie im Brucknerhaus spielen werden?

Nein, das kann ich nicht. Da hängt ein ganzes Paket daran, weil ich von Linz direkt nach Japan, Taiwan, Korea und Singapur gehe. Da ich immer mit meinem eigenen Klavier und mehreren Klaviaturen unterwegs bin, stellt mich das vor enorme logistische Herausforderungen. Da hängt ein ganzer Rattenschwanz von Konsequenzen daran, die ich im Moment gar nicht voraussehen kann. 

Wenn Sie immer mit eigenem Klavier und mehreren Klaviaturen reisen, rentiert sich für Sie da überhaupt noch eine Tournee?

Ich habe bei meiner letzten Tournee Geld verloren, und das nach Corona! Das war besonders schmerzhaft. Erschwerend kommt hinzu, dass es sich dabei um Kammermusik handelte. Wenn wir zu viert reisen und das Honorar aufteilen, bekomme ich achtmal weniger als für einen Klavierabend. Zwei Quartette von Brahms zu spielen, ist, verglichen mit einem Klavierabend, um einiges aufwendiger. Da steckt viel Logistik dahinter, weil man sich zu viert abstimmen und auch mehr Zeit für Proben investieren muss. Aber ich wollte es unbedingt machen. Ich komme aus einer Kammermusik-Familie. Die ganze Kindheit haben wir zu Hause Kammermusik gespielt. Das war für mich die schönste Zeit des Lebens. Ein Pianist, der Kammermusik spielt, nimmt für mich einen höheren Rang ein als jemand, der einfach nur Klavierkonzerte spielt.

Sie machen auch Kammermusik, wenn Sie Klavierkonzerte spielen. Ich denke da etwa an Ihre hinreißende Aufnahme der Chopin-Konzerte mit dem Polish Festival Orchestra, die ganz anders klingt, als man es für gewöhnlich hört. 

Jedes Klavierkonzert ist Kammermusik! Sogar die Brahms-Konzerte! Man muss sich nur mit den Leuten gut verstehen, mit denen man spielt. Dann kann man Kammermusik machen. Egal, ob ein Liszt-, ein Mozart-, oder ein Beethoven-Konzert – das ist immer Kammermusik. 

Dafür braucht man aber ein gutes und flexibles Orchester, das auch zuhören kann.

Ich habe in den letzten 30 Jahren eigentlich mit keinem schlechten Orchester gespielt. Ich kann auch über keinen Dirigenten irgendetwas Schlechtes sagen. Ich habe in meinem Leben bisher mit 139 Dirigenten gespielt. Jene, mit denen ich nicht mehr spielen möchte, könnte ich an einer Hand abzählen. Alle anderen waren immer vorbereitet und es machte Freude, mit ihnen zu musizieren. Herbert Blomstedt zum Beispiel, der mittlerweile 94 Jahre alt ist, sagt mir, ich bin der einzige Solist, den er noch einladen will. Immer wenn er ein Klavierkonzert machen möchte, ruft er mich an und fragt: „Spielst du dieses Konzert mit mir, dann führe ich es auf, wenn nicht, habe ich keine Lust dazu.“ Das ist unheimlich rührend, denn er ist ein fabelhafter Mann. Ich habe mit ihm die verrücktesten Sachen gemacht, die man jetzt nicht von einem alten Dirigenten erwarten würde. 

Sie haben auch oft mit Mariss Jansons gespielt. 

Die Geschichte mit Mariss war nicht ohne. Wir gaben 1976 gemeinsam unser Debüt in Rom. Das war sein allererstes Konzert im Westen und mein erstes in Italien. Wenig später waren wir für ein Konzert in Oslo engagiert, wo er kurz darauf Chef wurde. In der Nacht vor dem geplanten Auftritt rief mich mein Agent, Herr Parrott, an und teilte mir mit, dass wir die Konzerte boykottieren müssen, aus Solidarität mit Rostropowitsch, Kondraschin und Ashkenazy, die nicht ausreisen durften. Ich habe das Konzert daraufhin abgesagt. Um halb zwei Uhr in der Nacht rief mich Mariss aus einer Telefonzelle an. Aus dem Hotel könne er nicht sprechen, weil er vom KGB überwacht würde. Er bat mich, dieses Konzert zu spielen, weil er fürchtete, im Westen keine Chance mehr zu haben, wenn er es absagt. Ich habe ihm damals gesagt: „Mariss, es tut mir leid! Wir bleiben Freunde, aber du musst verstehen, ich werde aus politischen Gründen dieses Konzert nicht spielen.“ Das war einer meiner vielen politischen Proteste, die ich in meinem Leben gemacht habe. Manche haben mit dem Abfackeln meines Hauses in den USA geendet.

War das nach der Ankündigung, dass Sie nie mehr in Amerika spielen werden?

Sehen Sie, das ist eben der Witz! Ich habe das nie gesagt! Das hat ein unseriöser Journalist der Los Angeles Times in die Welt gesetzt, nämlich Mark Swed. Er besuchte den ersten Teil meines Konzerts im April 2009 in Los Angeles. Die Person, die den Platz neben dem seinen hatte, bestätigte mir, dass er im zweiten Teil nicht dort saß, wo er im ersten Teil gesessen ist, was auch verständlich ist, denn die Kritik muss bis 22 Uhr abgegeben werden, das Konzert hat aber bis 22:10 Uhr gedauert. Mark Swed hat also gar nicht hören können, was ich gesagt habe. Wahrscheinlich hat er von irgendjemandem einen Anruf bekommen, der eine Sensation kreieren wollte und Marc Swed ist darauf hineingefallen. Das aber darf einer so großen Zeitung wie der Los Angeles Times nicht passieren. Es stimmt, ich habe im zweiten Teil des Konzerts aus politischen Gründen protestiert. Ich habe in Richtung US-Militär gesagt: „Take Your hands from my country!“ Aber ich habe nie gesagt, dass ich nie mehr in Amerika spielen werde. Das hat sich erst ein paar Monate später ergeben, nachdem mein Haus abgebrannt wurde.

Wie kam es dazu?

Ich habe auf meinen USA-Tourneen immer sehr viel Geld verloren. Das hat mehrere Gründe: Ich habe immer darauf bestanden, die Hälfte der Konzerte in Universitäten zu spielen. Außerdem habe ich immer meinen eigenen Flügel mitgenommen, was hohe Kosten verursacht hat. Einen Truck zu mieten, kostete pro Tournee 12.000 Dollar. Um dasselbe Geld habe ich schließlich einen alten Truck gekauft und mir dann auch noch eine riesige Garage zugelegt, die mir als Parkplatz für den Truck diente. Zwei Büroräume in dem Haus ließ ich umbauen, sodass auch mein Klavierstimmer und mein Klaviertransporteur dort wohnen konnten. Dadurch konnte ich die hohen Hotelkosten einsparen. Irgendwann wollte ich die Verluste in den USA in den Griff kriegen. Ich stand schon knapp davor, doch durch die unseriöse Berichterstattung der Los Angeles Times wurde eine schlechte Stimmung um meinen Namen gemacht. 178 kleinere Zeitungen griffen das auf und ein paar Monate später stand mein Haus in Flammen. Die Feuerwehr ist gar nicht erst gekommen, die Polizei stand nur da und hat gewartet, bis das Haus total abgebrannt war. Danach wurde alles platt gemacht. Das hat mir später eine Nachbarin erzählt, die Angst hatte, dass das Feuer auf ihre Tankstelle übergreift. Kein Journalist in den USA hat mich zwischen April 2009 und dem heutigen Tag kontaktiert, um die Wahrheit zu erfahren. Und auch die Los Angeles Times hat sich bis heute nicht bei mir entschuldigt. So sehen Gerechtigkeit und die Freiheit der Presse aus. Ich bin kein Revolutionär. Ich stifte nicht zu schlechten Sachen an, aber ich sage meine Meinung. Aktuell habe ich eine Bitte an Joe Biden: Man soll endlich Julian Assange freilassen. Der Mann hatte als Journalist nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, die Dokumente zu publizieren. 

Kehren wir zur Musik zurück. Erstaunlich jung, nämlich mit 18 Jahren, haben Sie 1975 den prestigeträchtigen Chopin-Wettbewerb gewonnen. Bestand danach die Gefahr der Vereinnahmung?

Das war nicht der erste Wettbewerb, den ich gewonnen habe, aber der erste, der mit so einer Wirkung verbunden war. Ich musste sehr viel Lehrgeld bezahlen in meinem Leben, ich bin, was Veranstalter und Journalisten anlangt, in den ersten Jahren in einen Sumpf geraten. Die polnische Agentur zog stets im Hintergrund die Fäden, und nach meiner Übersiedelung in die Schweiz musste ich dreifach Steuern zahlen, in Polen, in der Schweiz und in dem Land, wo ich gespielt habe. Das war eine Horrorzeit. 1979 habe ich das beendet und ab 1980/81 keine Konzerte mehr gebucht. Zwei Monate später aber ist Karajan gekommen und hat mich gefragt, ob ich mit ihm spielen würde. Da war natürlich die Verlockung groß, mit einem so bedeutenden Musiker in Verbindung zu treten. Und 1981 kam Bernstein und fragte mich: „Möchtest du mit mir die zwei Brahms-Konzerte in Wien aufnehmen?“ Die Versuchung, mit den Wiener Philharmonikern zu spielen und mit Bernstein, war natürlich eine phänomenale Sache. Ich kannte Bernstein schon von früher. Ich hatte sogar 1976 schon eine Platte mit ihm gemacht, Les Noces von Strawinski. 

Bald nach dem Wettbewerb haben Sie Arthur Rubinstein kennengelernt. Welchen Einfluss hatte er auf Sie?

Er lud mich in sein Haus ein, wo ich eine Woche lang wohnen dufte. Er hat damals Annabelle, die später seine Freundin wurde, seine Memoiren diktiert. Ich habe ihn auch oft im Hotel Dolder in Zürich besucht. Es existieren sogar rund 20 Stunden Filmmaterial, das der Regisseur François Reichenbach im Zuge seiner Dokumentation über Rubinstein gedreht hat. Nach Reichenbachs Tod ist dieses Material leider verschwunden. Man weiß bis heute nicht, wo es ist. Ich habe mich auf die Suche gemacht, in Paris Nachforschungen angestellt, vergeblich. Es ist verschollen. Bis zum Ende seines Lebens, noch am vorletzten Tag vor seinem Tod, stand ich mit ihm in Kontakt. Es war faszinierend, mit einem Menschen sprechen zu können, der 71 Jahre älter war als ich, der Leute wie Szymanowski oder Rachmaninoff persönlich gekannt hat. Nicht mit vielen war er eng, nicht viele hatte er gern, seine Erzählungen waren sicher auch gefärbt durch verschiedene andere Faktoren, aber es war unheimlich interessant, ihm zuzuhören. Rubinstein hatte eine Sängerin getroffen, die noch mit Chopin bekannt war. Ich habe somit aus zweiter Hand Informationen über Chopin bekommen. Das ist etwas, was man gar nicht für möglich hält, jetzt im 21. Jahrhundert. Das war schon sehr, sehr interessant und hat mich stark geprägt. Was mir Karajan und Rubinstein vielleicht am meisten gegeben haben, war die Courage, der eigenen Intuition zu vertrauen und zu meiner eigenen Interpretation zu stehen.  

Der Rat fiel auf fruchtbaren Boden. Ihr Spiel hat jene Freiheit, die dem Notentext nie widerspricht, aber die Musik mit Leben erfüllt.

Ich bin unfähig, Sachen zu wiederholen. Wir hatten einen Lehrer, der hat sich hingesetzt und etwas vorgespielt. Ich war nicht in der Lage, das zu wiederholen, nicht aus technischen Gründen. Aber wenn ich von etwas nicht überzeugt war, die Interpretation nicht von mir selbst verdaut wurde, konnte ich mich anstrengen so viel ich wollte, da kam nichts raus. Deswegen klingen die von Ihnen zuvor erwähnten Chopin-Konzerte, auch die Tutti, ganz anders, als man es sonst zu hören bekommt. Das könnte man mit jedem Klavierkonzert machen. Ich habe genau dieselben Konzepte für die Brahms-Konzerte, für die Beethoven-Konzerte, die Simon Rattle jetzt zu 80 Prozent realisiert hat, wie ich sie mir vorstelle. Aber ich würde noch viel weiter gehen.

Warum haben Sie die Neuaufnahme der Beethoven-Konzerte nicht selbst vom Flügel aus dirigiert, wie Sie das bei den Chopin-Konzerten und in der Vergangenheit auch schon einmal bei den ersten beiden Beethoven-Konzerten taten?

Ich wollte das mit Rattle machen. Meine Freundschaft mit ihm datiert aus den frühen 70er-Jahren, als er noch Student war und zu meinen Konzerten in die Royal Festival Hall gekommen ist. Er hat dabei zum ersten Mal Musik von Szymanowski gehört. Heute ist er einer der größten Spezialisten auf dem Gebiet. Er macht es besser als jeder polnische Dirigent. Das ist jene Art von Freundschaft, die immer bleiben wird und die mich auch mit Mariss Jansons verband. Da gibt es keinen Zirkus, kein Ego, wir machen einfach nur Musik.

Einfach Musik machen – das klingt simpel. Doch geht es bei Ihnen nie um schönen Klang und Perfektion. Sie machen die Magie der Musik hörbar, die zutiefst berührt.

Vielleicht liegt ein Teil des Geheimnisses darin, dass ich nur Werke spiele, die ich in dem Moment spielen muss. Die zweite Sache ist, wie man übt. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Kollegen Zoltán Kocsis. Es war kein böser Streit, wir mochten uns sehr und haben lustige Sachen gemacht. Als sein Kind geboren wurde, habe ich einen Truck mit Pampers nach Budapest geschickt. Er hat mir immer vorgeworfen, Werke vor einem Konzert nie ganz durchzuspielen. Tatsächlich spiele ich beim Üben nie ein Werk von Anfang bis zum Ende durch. Ich höre es zum ersten Mal komplett erst im Konzert, und zwar deshalb, weil ich für die Endinterpretation dieses Adrenalin brauche – und den Input des Publikums. Eine Interpretation ohne Publikum existiert nicht. Jedes Konzert ist eine Liebeserklärung an das Publikum. Es ist ein bisschen so, wie wenn man sich zu einem Abendessen mit einer schönen Frau verabreden würde. Man will ihr sagen, ich liebe dich. Man steht zu Hause vor dem Spiegel und schaut, was machen die Lippen, wenn ich sage, ich liebe dich? Soll ich den Kopf nach links oder nach rechts wenden? Und dann stehen Sie plötzlich vor dieser Frau und der Satz kommt ganz von alleine über die Lippen, aber völlig anders, als Sie vor dem Spiegel gedacht hatten. Das ist genau das, was beim Üben passiert. Wir töten eigentlich die Werke beim hundertfachen Wiederholen. Ich habe eine sehr spezielle Art, zu üben, damit die Werke im Konzertsaal jungfräulich klingen. Ich weiß genau, was ich machen will, aber vieles davon habe ich zu Hause noch nicht gemacht. Ich weiß, eigentlich ist das falsch! Ich würde das auch niemandem empfehlen. Ich habe dadurch in Konzerten auch schon sehr viel Mist gebaut, aber ich will, dass es frisch bleibt. Jedes Konzert soll eine Liebeserklärung an den Komponisten und an das Publikum sein. 

Ihre jüngste Liebeserklärung auf CD gilt Beethoven und seinen Klavierkonzerten. Viele Musiker*innen nehmen Werke mehrmals auf, nur selten aber unterscheiden sich diese verschiedenen Versionen. Ganz anders in Ihrem Fall: Verglichen mit Ihrer alten Einspielung mit den Wiener Philharmonikern folgt Ihre neue Version einem ganz anderen Ansatz.

Das kann ich selbst nicht beurteilen, denn ich habe meine alte Aufnahme nie mehr gehört. Es ist klar, dass sie schon am nächsten Morgen anders wäre. Man ist ja nie derselbe. Das menschliche Gehirn ist an keinem Tag identisch. Beethovens Persönlichkeit ist mir von klein auf wichtig. Als ich ein Kind war, hatte ich drei Statuetten auf meinem Flügel. Das waren Brahms, Beethoven und Chopin. Lange Zeit habe ich in Chopin den reifen Mann gesehen, in Beethoven den uralten. Bis ich eines Tages im Januar festgestellt habe, dass ich auf den Tag genauso alt bin wie Beethoven an dem Tag, an dem er gestorben ist. In diesem Jahr werde ich so alt wie Brahms, als er starb. Heute ist Beethoven für mich ein jüngerer Kollege, über den ich viel rätseln kann. Er war nie ein alter Mann. Seine Gefühle, seine unerfüllten Lieben – ich habe im Moment einen besonders heißen Draht zu dieser Person, wenn ich etwa an seinen Protest beim Fürsten Lichnowsky denke, der ihn gebeten hatte, für die französischen Soldaten zu spielen, worauf Beethoven ihm fast einen Stuhl an den Kopf geschmissen hätte. Danach ging er nach Breslau und hat dort seine 4. Sinfonie komponiert. Ich habe sie unlängst dirigiert, worauf man mir einen Job als Chefdirigent anbieten wollte. Das aber interessiert mich überhaupt nicht als Beruf. Was mich interessiert, sind einzelne Werke, die ich gerne dirigieren würde, zum Beispiel Mahlers 10. Sinfonie oder Le Sacre du printemps, so wie ich es innerlich höre, auch den Feuervogel. Der größte Traum meines Lebens aber wäre, Daphnis et Chloé zu machen. Wenn ich von irgendeinem Orchester genügend Proben bekäme, würde ich dafür bis ans Ende der Welt fahren. Das ist eines der größten Werke, das jemals geschrieben worden ist.

Gibt es Momente, wo Sie glücklich vom Podium gehen?

Ja schon, aber ich weiß auch in jedem Takt, was ich besser machen will im nächsten Konzert. Das kann endlos so gehen. Manche Werke spiele ich schon seit 25 Jahren und da war noch keine Aufführung so, wie ich sie möchte, so hundertprozentig. Aber ich habe gelernt, mit diesen Kompromissen zu leben. 

 

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