27.10.2022

Musik in Zeiten des Kriegs

Das Nationale Sinfonieorchester der Ukraine gastiert am 13. November 2022 unter seinem Chefdirigenten Wolodymyr Sirenko im Brucknerhaus Linz.

Das internationale Völkerrecht brechend, haben am 24. Februar 2022 russische Invasionstruppen die Ukra­ine überfallen und überziehen das Land seither mit Krieg, Zerstörung und unfassbarem menschlichem Leid.
 Noch am Vorabend der Invasion gab das Nationale Sinfonieorchester der Ukraine in Kiew ein Konzert. An sich sollte Richard Strauss’ großbesetzte Tondichtung Ein Heldenleben auf dem Programm stehen. Doch aufgrund geltender COVID-Regeln musste die Anzahl der Musiker*innen limitiert werden. Daher erklang stattdessen Beethovens Eroica, die vom Kampf um Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erzählt. Die Stimmung an diesem Abend muss doch eigentlich sehr bedrückt gewesen sein. „Nein“, widerspricht Oleksandr Hornostai, der Exekutivdirektor des Nationalen Sinfonieorchesters der Ukraine. „Die Atmosphäre war wie immer. Niemand glaubte an den Krieg. Wir waren wirklich naiv.“ 

 

Wolodymyr Sirenko © M & B Concerts
Wolodymyr Sirenko © M & B Concerts

Wer sein ganzes bisheriges Leben in Frieden zubringen durfte, kann sich wohl gar nicht vorstellen, dass das Leben in Kriegsgebieten trotzdem so weit wie möglich seinen normalen Gang nimmt. So ist auch das Musikleben in der Ukraine keineswegs zum Erliegen gekommen, wie Chefdirigent Wolodymyr Sirenko bestätigt. „Seit Kriegsbeginn im Februar bis einschließlich 1. Oktober habe ich 13 Konzerte mit unterschiedlichen Programmen dirigiert. Ich glaube, dass Menschen gerade in schwierigen Zeiten Musik und Schönheit brauchen.“ „Ende April haben wir unsere Aktivitäten wieder aufgenommen“, ergänzt Oleksandr Hornostai. „Wir haben am 1. Mai ein wichtiges Konzert in Venedig gegeben. Außerdem spielten wir im Juni, August und September regelmäßig Konzerte. Der Saal war zwar nur zu einem Drittel belegt, aber via Online-Stream haben wir viele Menschen erreicht. Alle waren glücklich, sowohl das Publikum im Saal als auch die Musiker*innen auf der Bühne.“ Von seiner Zusammensetzung her hat das Orchester durch den Krieg nur minimale Einbußen hinnehmen müssen. Die meisten Mitglieder seien in der Ukraine geblieben, wie Oleksandr Hornostai ausführt. „Zehn Mütter gingen mit ihren Kindern nach Europa. Und zwei Musiker wurden in die Armee einberufen.“

Das Nationale Sinfonieorchester derUkraine wurde 1918 gegründet, das dank seiner Aufnahmen und Tourneen auch im Ausland einen hervorragenden Ruf genießt. Am Pult konnte es im Laufe der Zeit viele namhafte Gastdirigenten begrüßen, unter anderem Jewgeni Mrawinski, Leopold Stokowski, Kurt Sanderling oder Kirill Kondraschin. Seit 1999 ist Wolodymyr Sirenko sein Chefdirigent, der dem Orchester seither eine goldene Ära beschert. Ihm ist wichtig, den handwerklichen Aspekten des Zusammenspiels ein hohes Maß an Qualität zu sichern, gleichzeitig aber auch die Musik emotional aufzuladen, um die Menschen zu berühren. Dieses Ziel erreicht er unter anderem durch eine kluge Mischung unterschiedlicher Stile aus verschiedenen Epochen, wodurch sich das Orchester große Flexibilität aneignen konnte. „Das Repertoire des Orchesters ist ganz typisch – Sinfonien von Beet­hoven, Brahms, Dvořák, Mahler und anderen. Aber unsere wichtigste Mission ist die Aufführung von Werken ukrai-nischer Komponisten, sowohl von zeitgenössischen als auch von unseren Klassikern wie Borys Ljatoschynskyj oder Lewko Rewuzkyj. Damit setzen wir eine Tradition meiner Vorgänger Natan Rachlin und Stefan Turchak fort.“

Zu den bedeutenden ukrainischen Komponisten zählt Jewhen Stankowytsch, dessen 2. Sinfonie, die Heroische, nebst Schumanns Vierter und dem 1. Klavierkonzert von Liszt auf dem Programm des Konzerts des Nationalen Sinfonieorchesters der Ukraine am 13. November im Brucknerhaus steht. 1942 entstanden, erinnert diese Sinfonie des heute 80-jährigen Komponisten entfernt an Schostakowitsch, was Chefdirigent Wolodymyr Sirenko durchaus als Beweis ihrer Qualität wertet, war Stankowytsch doch noch relativ jung, als er 1975 diese Sinfonie schrieb. „Seine ersten Werke sind ziemlich avantgardistisch, wozu etwa sein 1. Cellokonzert oder seine 1. Sinfonie, die Sinfonia Larga, zählen. Im Laufe der Zeit änderte sich Stankowytschs Sprache. Allerdings bin ich kein Musikwissenschaftler. Tiefergehende musikalische Analysen muss ich den Theoretikern überlassen.“ Immerhin erzählt Wolodymyr Sirenko, dass die 2. Sinfonie ursprünglich Dramatische heißen sollte. „Sie ist dramatisch und tragisch. Doch in totalitären Zeiten entstanden, wäre eine solche Bezeichnung für einen jungen sow­jetischen Komponisten nicht angebracht gewesen. Da galt es, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Daher hat er sie Heroische genannt. Im Einverständnis mit dem Komponisten wollen wir
 dieser Sinfonie nun aber ihren ursprünglichen Namen zurückgeben. Ich habe sie für die Aufführung im Brucknerhaus ausgewählt, weil dramatische und tragische Zeiten für die Ukraine angebrochen sind. In dieser Musik höre ich unsere Probleme von heute.“

Auch wenn das Leben in der Ukraine so weit wie möglich „normal“ weitergeht, stellt eine Tournee des Orchesters ins Ausland dennoch eine bemerkenswerte logistische Meisterleistung dar, schon allein aufgrund der Tatsache, dass es in der Ukraine derzeit keine zivile Luftfahrt gibt. Doch in Zusammenarbeit mit M&B CONCERTS besucht das Nationale Sinfonieorchester der Ukraine nicht nur Linz, sondern auch zahlreiche Städte in Deutschland. Außerdem stehen Konzerte in Antwerpen, im schweizerischen Visp, in Thun sowie in Warschau und Kattowitz auf dem Programm – ein deutliches Indiz nicht nur für die Solidarität Europas mit der Ukraine, sondern auch Ausdruck eines gesteigerten Inte­resses, das Musikland Ukraine, das über zahlreiche Talente verfügt, besser kennenzulernen. 

Zum Standardrepertoire ukrainischer Musiker*innen zählten stets auch russische Komponisten wie Tschaikowski oder Schostakowitsch. Doch seit der russischen Invasion sind russische Meister aus den Programmen verbannt. Was aber hat, so die Frage an Oleksandr Hornostai, Tschaikowski mit Putin zu tun? Und war nicht auch Schostakowitsch ein Opfer des russischen Diktators Stalin? „Wir respektieren und lieben Tschaikowskis und Schostakowitschs Musik. Putin und die Russen benutzen sie aber für die offizielle Kreml-Propaganda, um ihre Invasion und Aggression zu rechtfertigen. Da dieser schreckliche Krieg mit so vielen Opfern und der Annexion besetzter Gebiete einhergeht, können wir derzeit keine russische Musik aufführen.“

Peter Blaha

 

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