07.08.2023

MUSIK DES HERZENS

Sie war gerade mal elf Jahre alt, als Han-Na Chang den Concours Rostropovitch in Paris gewann. Danach feierte sie als Wunderkind mit ihrem Guadagnini-Cello in aller Welt Triumphe. Mittlerweile hat sich die südkoreanische Musikerin auch als Dirigentin einen Namen gemacht. Das Trondheim Symfoniorkester wählte sie zur Chefdirigentin, die Hamburger Symphoniker zur Ersten Gastdirigentin. Am Pult der Wiener Symphoniker brillierte sie zuletzt im Rahmen einer Asien-Tournee.

Mit Han-Na Chang sprach Peter Blaha.

Han Na Chang © Ole Wuttudal
Han Na Chang © Ole Wuttudal
Han-Na Chang © Morten Krogvold
Han Na Chang © Luciano Romano
Han Na Chang © Ole Wuttudal
Han Na Chang © Ole Wuttudal

Ich erinnere mich an ein beeindruckendes Interview, das ich vor mehr als zwei Jahrzehnten mit Ihnen in München führen durfte. Sie waren damals noch ein Kind, spielten aber schon hinreißend Cello. Waren solche Interviews damals lästige Pflicht oder hatten Sie auch Gefallen daran?

Schön, Sie nach so vielen Jahren wiederzusehen. Vielen Dank für Ihre nette Erinnerung – ich habe Interviews immer genossen, besonders, wenn sie interessant verlaufen sind! Es bereitet mir Freude, mit verschiedenen Menschen kommunizieren zu können und all jenen, die solch ein Interview in gedruckter oder digitaler Form konsumieren, die bewegende Kraft klassischer Musik näherbringen zu können. Ich schätze es auch, mit unerwarteten Fragen konfrontiert zu sein, die mir neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnen, meine Gedanken über Musik neu zu formulieren. Damals wie heute freue ich mich sehr, über meine größte Leidenschaft sprechen zu dürfen: über die Musik

Damals in München haben Sie ein Konzert unter Giuseppe Sinopoli gespielt, mit dem Sie häufig gemeinsam auftraten. Ein wichtiger Mentor war auch Mstislav Rostropowitsch. Den Wettbewerb, der seinen Namen trug, haben Sie mit 11 Jahren gewonnen. Welchen Einfluss hatten diese beiden Musiker auf Ihre künstlerische Entwicklung? Waren das Vorbilder, was haben Sie von Ihnen gelernt?

 Sowohl Maestro Sinopoli als auch Maestro Rostropowitsch waren prägende Einflüsse in meinem Leben. Sie waren weit mehr als nur Vorbilder, denn sie nahmen Anteil an meiner Entwicklung, haben mich beraten und unterstützt und mir dadurch ihre große Zuneigung bewiesen. Beide waren nicht nur großartige Künstler, die man respektieren und bewundern musste, sondern auch wunderbare Menschen. Solchen Künstlern in einem Alter begegnen zu dürfen, in dem man einfach alles wie ein Schwamm aufsaugt, hat mir sehr viel bedeutet. Sie gaben mir die Richtung vor, in die sich meine musikalischen Gedanken, meine Persönlichkeit, meine Ideale und meine Philosophie entwickelten.

Als Dirigentin debütierten Sie im Alter von 24 Jahren. Wenn ich richtig informiert bin, war es Ihre Liebe zum sinfonischen Repertoire, die Sie dazu veranlasst hat, den Cellobogen mit dem Dirigentenstab zu tauschen. Was fasziniert Sie an der sinfonischen Musik?

Das Cello-Repertoire ist nicht so vielfältig wie bei anderen Soloinstrumenten, etwa dem Klavier oder der Violine. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich weiterentwickeln muss. Das Studium der großen sinfonischen Literatur schien mir der beste Weg nach vorne zu sein. Ein Orchester ist der größte Klangproduzent. Es bietet Komponisten nahezu grenzenlose Möglichkeiten. Für Orchester zu schreiben bedeutet, die Musikgeschichte voranzutreiben und damit unser Leben zu verändern. Beethoven, Mahler, Bruckner und Brahms waren jene vier Komponisten, bei denen ich aufhörte, mir Aufnahmen anzuhören. Ich habe mir stattdessen die Partituren all ihrer Sinfonien gekauft und sie zu lesen begonnen. Eines Tages sprach Beethoven plötzlich selbst zu mir, durch die Noten, die vor Leben sprühten, tanzten und sangen – und ich hörte seine Musik, ich hörte Beethovens Stimme, seine musikalischen Absichten, so deutlich in meinem Herzen, in meinem Kopf. Von diesem Moment an dachte ich mir: Diese wunderbare Musik muss ich einfach aufführen! Ich muss Dirigieren lernen, damit ich das zum Klingen bringen kann, was ich so deutlich in meinem Herzen höre.

Nicht alle erfolgreichen Instrumentalist* innen, die ans Dirigent*innenpult wechseln, haben damit Erfolg. Nahm es Ihnen der Musikbetrieb übel, dass sie dem Cello Adieu sagten?

Nun ja, die Musikbranche kannte mich als erfolgreiche Wunderkind- Cellistin. Viele Menschen wunderten sich darüber, weshalb ich nun auf einmal einen anderen Berg besteigen wollte, obwohl ich doch schon als Cellistin solch einen Berg bezwungen hatte. Noch etwas kommt hinzu: Ich bin eine Frau, Asiatin und war damals noch sehr jung. Ha, ha! Es gibt viele solche Vorurteile in allen Lebensbereichen, in allen Berufsfeldern. Wenn mein Lebensziel darin bestanden hätte, Karriere zu machen, wäre ich wohl nicht Dirigentin geworden. Aber ich hatte ein tiefes, tiefes Verlangen – ja geradezu eine Obsession –, Beethoven und Mahler zu dirigieren und Bruckner und Brahms. Genau diese Komponisten, die nichts oder nur sehr wenig für Cello geschrieben haben, faszinieren mich. Ich wollte in direkten Kontakt zu ihrer Musik treten, wollte diese Musik mit meinen Händen zum Klingen bringen. So wurde es Ziel und Zweck meines Lebens, diese Klang- Welt, diese Musik aufzuführen, zu interpretieren, zu genießen, zu teilen, diese Musik, die so reich an menschlichen Emotionen und menschlichen Erfahrungen ist, lebendig werden zu lassen. Ich wollte, dass das mein Leben ist. Ich hatte keine Wahl. Ich habe alles getan, was in meiner Macht steht, Zeit, Mühen, Geduld und harte Arbeit investiert, um Dirigentin zu werden.

Sie dirigieren auch Oper. In der klassischen Ausbildung zum*zur Kapellmeister*in gilt die Tätigkeit eines Korrepetitors bzw. einer Korrepetitorin als wichtige Vorstufe zum*zur Dirigent*in. Namhafte Dirigenten, die niemals als Korrepetitor tätig waren, haben mir erzählt, wie schwierig es für sie anfangs war, Oper zu dirigieren, weil sie erst lernen mussten, mit den Sänger*innen zu atmen. Wie ist es Ihnen bei Ihren ersten Erfahrungen als Operndirigentin ergangen?

Oper macht so viel Spaß, was für eine Kunstform! Meine erste szenische Oper 2010 war Manuel de Fallas El retablo de maese Pedro, zuletzt habe ich eine Neuproduktion von Puccinis Tosca dirigiert. Aber auch die großen sinfonischen Werke mit Sängern und Chören, Orchesterlieder und Requiems nehmen in meinem Repertoire einen großen Platz ein. Es ist sehr interessant, wenn der Musik ein Libretto unterlegt ist. Manchmal bedeutet das eine Erweiterung dessen, was in der Musik zum Ausdruck kommt. Mitunter entstehen zusätzliche Bedeutungsebenen oder auch Spannung und manchmal werden dadurch Fragen innerhalb des musikalischen Kontextes aufgeworfen. Um Ihre Frage zu beantworten: Ich verbringe viel Zeit damit, das Libretto zu studieren – es ist wichtig, dass ich die Worte kenne, sagen und singen kann, wie es ein Sänger tun würde. Wenn man die Worte verinnerlicht, wird einem bewusst, wo man atmen muss – wo es Sinn macht und wo nicht, nicht nur im Hinblick auf den Text, sondern auch im Hinblick auf die musikalische Phrase. Und auch das Tempo wird klarer – der Gedanke, der Ausdruck, die Diktion, die Phrasierung bestimmen das Tempo, mit dessen Hilfe die künstlerische Vision kommuniziert wird, die den Absichten des Komponisten entspricht. Wenn man alle Wörter verinnerlicht hat – genauso wie die Noten –, fügt sich am Ende des Tages alles einfach zusammen. Ich denke, es macht keinen Unterschied, ob man singt oder ein Instrument spielt, musikalische Phrasierung basiert auf den gleichen Grundprinzipien der Atmung.

Sie sind Chefdirigentin in Trondheim, Erste Gastdirigentin bei den Hamburger Symphonikern, aber auch bei vielen anderen Orchestern ein gern gesehener Gast, so etwa bei den Wiener Symphonikern. Jedes dieser Orchester hat einen eigenen Klang, eine eigene Persönlichkeit. Lassen Sie sich davon inspirieren? Passen Sie Ihre Interpretationen an das jeweilige Orchester an?

In einem meiner Lieblingsvideos sagt Karajan: „Ein großartiges Orchester überrascht den Dirigenten manchmal, indem es mehr zurückgibt als er vorgeschlagen oder erwartet hat." Und er sagt auch, dass das Orchester seinen eigenen Willen hat, das – ähnlich einem Vogelschwarm – in perfekter Formation ohne einen sichtbaren Anführer fliegt. Das bringt die Freude am Dirigieren perfekt auf den Punkt. Das ist etwas, was ich als Cellistin so nicht erleben konnte. Als Cellistin habe ich geübt und alleine den Klang erzeugt. Der musikalische Prozess begann und endete in mir. Als Dirigentin jedoch studiere ich die Partitur so gründlich und detailliert wie möglich und entwickle in meinem Kopf eine Vorstellung dessen, was dem Komponisten vorschwebte. Mit dieser Vision trete ich vor das Orchester und dann – erst dann – beginnt der eigentliche Arbeitsprozess. Sogar die Technik des Dirigierens – die Art der Kommunikation – ändert sich je nach Orchester, entsprechend dessen Gewohnheiten und dessen Flexibilität. Selbst wenn man eine starke und sehr klare Interpretation vor Augen hat, ist das Endergebnis nicht vollständig vorhersehbar. Das ständige „Geben und Nehmen“ prägt die Zusammenarbeit zwischen Dirigent*in und Orchester. Das ist einer chemischen Reaktion vergleichbar. Meine Interpretation und die Tradition des Orchesters verbinden sich, daraus entsteht unsere gemeinsame Interpretation ... das ist aufregend!

Beim Internationalen Bruckner-fest werden Sie erstmals das Bruckner Orchester Linz dirigieren, das im vergangenen Jahr ebenfalls in Seoul erfolgreich war. Haben Sie dieses Orchester schon einmal gehört? Mit welchen Erwartungen treten Sie vor dieses Orchester?

Ich habe das Bruckner Orchester Linz noch nicht live gehört. Es ist immer sehr aufregend, das erste Mal vor ein Orchester zu treten. Man weiß nicht, was einen erwartet, wie die Zusammenarbeit sein wird. Auch der Veranstaltungsort und das jeweilige Repertoire eines Orchesters haben Einfluss auf diese Zusammenarbeit. Aber unterm Strich ist wohl das Wichtigste, dass es beiden Seiten um die Musik geht und wir uns in der Musik treffen. Ich freue mich sehr darauf, gemeinsam mit den Musiker*innen des Bruckner Orchester Linz zu musizieren und dieses fantastische Orchester aus erster Hand kennenzulernen, von dem großartigen Programm und von St. Florian ganz zu schweigen!

Sie werden beim Brucknerfest in der Stiftsbasilika St. Florian den 130. Psalm von Lili Boulanger sowie die Messe in D-Dur von Ethel Smyth dirigieren. Das Programm dieses Konzerts stand fest, als Sie dafür angefragt wurden. Sie haben spontan zugesagt. Warum? Was gab dafür den Ausschlag? 

Ja, es stimmt. Ich wurde angefragt, nachdem das Programm bereits beschlossen war. Ich wusste zunächst nicht, was mich erwartete, aber nachdem ich die Partituren gelesen hatte … Wow! Was für eine Entdeckung. Lili Boulangers kraftvolle, fantasievolle, dramatische, moderne und sehr persönliche Sprache hat mich vollständig verblüfft. Was für ein Genie! Ihre meisterhafte Orchestrierung, ihr packender Klang, die eindringlichen und ausdrucksstarken Melodielinien … und was für eine fantastische Behandlung der Wörter!! Ethel Smyths Messe ist von großem Ausmaß, sowohl majestätisch als auch intim. Beides sind sehr bewegende Werke – ein kraftvoller Ausdruck von großartigen Persönlichkeiten. Musik zu entdecken, die ich zuvor nicht gekannt hatte und sie mit dem Publikum teilen zu dürfen – das ist aufregend und eine große Freude!

Was ist das Besondere an Ethel Smyths Musik, speziell an dieser Messe?

Ihre Musik ist sehr persönlich und sehr kraftvoll. Auffallend ist ihre originelle Behandlung des Textes, manchmal auch auf völlig unerwartete Weise. Wie sie einzelne Wörter wiederholt und gerade durch diese Wiederholungen Spannung aufzubauen versteht, ist wunderbar und sehr effektvoll. In ihrer Harmonik erinnert sie mich an Bruckner(!). Ich denke, dass sie ein großes Verständnis für theatralische Spannung besaß, sie muss eine tolle Opernkomponistin gewesen sein. Auf mich wirkt diese Messe wie eine fantastische dramatische Verbindung zwischen diesen heiligen Worten und ihr!

Eine prominente Dirigentin wurde von einer Journalistin einmal vorwurfsvoll gefragt, warum sie einen Dirigentenstab verwende. Das sei doch ein Phallussymbol. Was würden Sie dieser Journalistin antworten?

Nun, das ist eine völlige Fehleinschätzung des Dirigentenstabs und obendrein zeugt es auch noch von historischer Unkenntnis. Der Dirigentenstab dient als Werkzeug der Kommunikation. Er wurde nicht zufällig zu jener Zeit geboren, als die Kompositionen immer komplexer wurden und ein musikalischer Leiter notwendig wurde, dessen Aufgabe nicht nur darin bestand, das Ensemble zusammenzuhalten, sondern mehr und mehr auch in Sachen Interpretation gefordert war. Ich würde antworten: „Was für eine dumme Frage, egal, ob man sie einer Frau oder einem Mann stellt."   

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